Als Hundetrainerin und langjährige Hundebesitzerin habe ich zahlreiche Welpen und ihre Besitzer kennengelernt. Dabei fällt mir immer wieder auf, dass viele Neulinge in der Hundeerziehung sich an allgemeine Ratschläge klammern, die von Generation zu Generation weitergegeben werden. Dazu zählen Aussagen wie „Ein Welpe sollte pro Lebensmonat nur fünf Minuten spazieren gehen“ oder „Ein Welpe braucht 20 bis 22 Stunden Schlaf am Tag“. Früher habe auch ich diese Ratschläge strikt befolgt, doch inzwischen habe ich erkannt, dass das Wichtigste dabei oft übersehen wird: Die individuellen Bedürfnisse des Welpen.
Allgemeine Regeln: Warum sie nicht immer sinnvoll sind
Die gängigen Regeln, wie viel ein Welpe schlafen oder sich bewegen sollte, haben sicher ihren Ursprung in gut gemeinten Ratschlägen. Sie sind als grobe Richtlinie sicherlich hilfreich, können aber in der Praxis schnell zur Überforderung oder sogar zur Fehlentwicklung führen. Jeder Hund ist ein Individuum – und was für den einen Welpen passt, kann für den anderen völlig ungeeignet sein.
Wenn ich meinen Welpenbesitzern heute etwas mit auf den Weg gebe, dann ist es der Appell, ihren Welpen genau zu beobachten und seine Bedürfnisse zu erkennen. Es geht nicht darum, bestimmte „Normen“ zu erfüllen, sondern darum, einen ruhigen und ausgeglichenen Alltagsbegleiter zu erziehen. Dieser Weg ist individuell und verlangt Fingerspitzengefühl.
Individuelle Bedürfnisse erkennen und respektieren
Die wichtigsten Lektionen, die ich von meinen Hunden gelernt habe, sind Geduld und das Zuhören – oder besser gesagt, das „Zusehen“. Jeder Hund hat seinen eigenen Charakter und sein eigenes Tempo. Manche Hunde sind von Natur aus aktiver und neugieriger, andere eher ruhig und zurückhaltend. Diese genetisch veranlagten Unterschiede sollten Welpenbesitzer von Anfang an erkennen und respektieren.
Ein Welpe, der offensichtlich müde ist oder keinen Spaß am Spaziergang hat, sollte nicht gezwungen werden, weiterzulaufen. Wenn ein Hund lieber schnüffelt und seine Umgebung in Ruhe erkundet, sollte ihm diese Zeit auch gegeben werden. Denn es geht nicht darum, wie lange oder wie oft man mit dem Welpen nach draußen geht, sondern darum, was der Welpe dabei lernt und erlebt. In kleinen, gut dosierten Dosen können Umwelteindrücke positiv verarbeitet werden und führen langfristig zu einem selbstbewussten Hund.
Fördern, ohne zu überfordern: Die richtige Balance finden
Das Ziel sollte sein, den Welpen so zu fördern, dass er eigenständig Ruhe finden kann und die Welt in seinem eigenen Tempo entdeckt. Statt starr an Zeiten und Regeln festzuhalten, empfehle ich meinen Welpenbesitzern, den Fokus darauf zu legen, dass der Hund zur Ruhe finden kann. Das bedeutet nicht, den Welpen ständig zu beschäftigen oder ihn von einer Aktivität zur nächsten zu führen. Vielmehr geht es darum, ihm die Möglichkeit zu geben, sich auch mal zurückzuziehen und zu entspannen. Wenn ich beispielsweise 30-mal am Tag mit dem Welpen fünf Minuten im Garten verbringe, kann das genauso schädlich sein wie ein 1,5-stündiger Spaziergang.
Der Aufbau einer vertrauensvollen Mensch-Hund-Beziehung
Oft höre ich von stolzen Welpenbesitzern, dass ihr Hund schon „Sitz“, „Platz“ beherrscht oder auf seinen Namen hört. So erfreulich das auch ist, sollte das nicht der primäre Fokus sein. Diese Dinge sind für Welpen in gewissem Alter oft selbstverständlich und können sogar kontraproduktiv sein, wenn sie zu früh zu stark betont werden. Wichtiger ist es, den Hund kennenzulernen, ihn zu verstehen und eine verlässliche Beziehung aufzubauen.
Eine starke Mensch-Hund-Beziehung basiert nicht allein auf Grundgehorsam, sondern auf Vertrauen, Verständnis und der Fähigkeit, sich in schwierigen Situationen aufeinander verlassen zu können. Ein Hund, der sich sicher fühlt und seinem Besitzer vertraut, wird weniger Aggressionsverhalten zeigen, weil er weiß, dass er sich auf seinen Menschen verlassen kann.
Konsequenz und positive Verstärkung: Der Schlüssel zum Erfolg
Althergebrachte Regeln und Konsequenz spielen natürlich eine wichtige Rolle, sollten jedoch richtig angewendet werden. Konsequenz bedeutet nicht, den Hund zu bestrafen, wenn er etwas „falsch“ macht, sondern ihm durch eine geeignete Umgebung zu ermöglichen, das „richtige“ Verhalten zu zeigen und dieses dann positiv zu verstärken. Ein Beispiel hierfür ist die Gestaltung des häuslichen Umfelds so, dass der Welpe gar nicht erst in Versuchung gerät, unerwünschtes Verhalten zu zeigen.
Statt negative Konsequenzen zu setzen, empfehle ich, erwünschtes Verhalten zu belohnen und dadurch zu fördern. Wenn der Welpe lernt, was von ihm erwartet wird, wird er von selbst das unerwünschte Verhalten unterlassen.
Fazit: Jeder Welpe ist einzigartig
Das Wichtigste, was ich neuen Welpenbesitzern mit auf den Weg geben kann, ist Geduld und die Bereitschaft, sich auf die individuellen Bedürfnisse ihres Hundes einzustellen. Verabschiedet euch von starren Regeln und Normen und lernt, euren Welpen zu verstehen. Denn am Ende ist das Ziel nicht, einen Hund zu haben, der perfekt „Sitz“ und „Platz“ beherrscht, sondern einen verlässlichen und ausgeglichenen Begleiter fürs Leben. Nur durch eine starke, vertrauensvolle Beziehung könnt ihr sicherstellen, dass euer Hund euch in jeder Lebenslage vertraut – und das ist weit wertvoller als jeder Grundgehorsam.
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